Nasse Handtücher

360° GEO | Dezember 2007 | Wenzhou | Making OF |

„Wenzhou? Wo soll das denn sein?“ Jedes Mal, wenn ich erzählte, wo unser Drehort sein würde, stieß ich auf Ratlosigkeit. „In China? Eine Millionenstadt? Nie gehört…“

Dabei mischt sich die Metropole ständig in unseren Alltag: Fabriken aus Wenzhou überschwemmen die Welt mit Feuerzeugen, mit Brillen und vor allem mit Schuhen. Kein Wunder, dass die Stadt am Pazifik von den Chinesen als „Shoe City“ oder „Hauptstadt der Schuhe“ bezeichnet wird. Und kaum jemand in Europa weiß davon.

Wie ist Wenzhou? Mein erster Gedanke beim Landeanflug war: „Das da? Das ist alles?“ Keine Spur von Weltstadt, keine grandiose Skyline, nur ein steinernes Meer aus scheinbar planlos hingewürfelten Gebäuden. Dann ein kleiner, schrammeliger Flughafen, den man eher in einer unbedeutenden südamerikanischen Provinzstadt vermuten würde, als in einer aufstrebenden asiatischen Metropole. Unser Empfang war dann umso pompöser – eine Art Mini-Staatsakt. Eigentlich wollten wir nur müde ins Hotel – doch da warteten bereits ‚unser’ Schuhfabrikant, sein Erster Direktor, seine Assistentinnen, seine Fahrer und mehr… Mir schwante nichts Gutes. Schließlich waren wir zum Arbeiten da und nicht, um rundum betreut zu werden. Und darin lag mächtig Konfliktpotential: Ich wollte keinen Begleit-Tross, der ständig um uns herumwuselt, alles kontrollieren will und jede Atmosphäre zunichte macht. Ich brauchte keine staatliche Übersetzerin, keinen amtlichen Wirtschaftsexperten und keinen Ortskundigen, der uns nur dahin lotsen wollte, wo es nach offizieller Meinung schön und vorzeigbar ist. Ich wollte das ‚echte’ Leben finden und vorstellen.

Und es waren schließlich deutliche Worte nötig, um die ganze Truppe loszuwerden: „Entweder wir können hier in Ruhe arbeiten, oder wir reisen ab.“ Von da an ging es. Und wir haben uns auf eigene Faust in das Abenteuer Wenzhou gestürzt.

Was wir vor allem brauchten, waren gute Nerven. Wenzhou ist ein Moloch. Eine unwirtliche, wild wachsende Häuserwüste ohne Orientierungspunkte. Es gibt kaum einprägsame Gebäude, und selbst die Hochhäuser sehen ziemlich gleich aus: phantasielose, schnell gebaute Wohn- und Arbeitssilos. Sogar die Neubauten, die an jeder Ecke wie Pilze aus dem Boden schießen, machen da keinen Unterschied. Das tägliche Chaos wird bestimmt vom planlosen Verkehr. Noch vor wenigen Jahren fuhren kaum Autos in der Stadt – doch seit privates Vermögen in der Stadt offiziell erwünscht ist, platzt der Verkehr aus allen Nähten. Jeder will ein Auto haben – was nicht unbedingt heißt, dass er auch fahren kann. Und mitten im Gewühl lebensmüde Rikschafahrer, zähe Handkarren-Schlepper und verschreckte Fußgänger.

Eigentlich gibt es nur eine einzige Überlebensregel: Der Stärkere hat Vorfahrt. Ich habe es ausprobiert: Auf einer achtspurigen Straße bin ich langsam im Kreis gefahren, Runde für Runde. Immer voll in den Gegenverkehr. Passiert ist nichts. Es hat sich nicht einmal jemand gewundert, geschweige denn aufgeregt. Man kann sich daran gewöhnen. Dumm nur, wenn man diese Anarchie später daheim auf mitteleuropäischen Straßen beibehält.

Wenzhou ist die perfekte Stadt für Angeber: Hier ist anerkannt, wer hat und zeigt. Ich habe noch nirgendwo eine so hohe Dichte an Porsche, Mercedes und BMW gesehen. Und nicht etwa die kleinen Einsteigermodelle. Es müssen schon die High-End Gefährte sein. Was natürlich nicht heißt, dass all der Wohlstand in der Stadt halbwegs gerecht verteilt wäre. Im Gegenteil. Die „Hauptstadt des Kapitalismus“, wie Wenzhou manchmal auch genannt wird, ist ein Pool der Armut. Hunderttausende leben zu Bedingungen, die in der westlichen Welt eine Welle der Empörung auslösen würden.

Es war eine spannende Drehzeit – aber auch eine knochenharte: Es gibt in dieser Stadt keine Ruhepole, keine Plätze, an denen man für einen einzigen Augenblick innehalten kann. Irgendeiner brüllt, hupt, hämmert, sägt garantiert. Die Einheimischen scheint das nicht zu stören. Im Gegenteil. Man findet immer etwas, das NOCH lauter ist, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es wundert hier niemanden, wenn ein Gesprächspartner in nur einem Meter Entfernung per Megaphon auf sein Gegenüber einbrüllt – auch wenn ein dauerhafter Fiepton als Kollateralschaden zurückbleibt. Mir platzte irgendwann der Kragen, als nachts im Hotel im Nebenzimmer mit schwerem Gerät Wände eingerissen wurden. Man hat mich aber nur seltsam angesehen, als ich etwas von Ruhebedürfnis geschnauft habe. Das Individuum zählt nicht in der Millionenstadt. Und einen Schutz der Privatsphäre gibt es auch nicht wirklich. Das habe ich spätestens gemerkt, als der Zimmerservice lauthals in mein Zimmer drang, um das Internet abzurechnen.

Der Mann ließ sich unter keinen Umständen davon abbringen – obwohl ich in der Badewanne saß. Seitdem bin ich in Wenzhou bekannt als derjenige, der splitternackt Hotelangestellte mit nassen Handtüchern jagt.

Irgendwann habe ich einfach aufgegeben. Aber so ziemlich das erste, was ich nach der Rückkehr genossen habe, war eine stille Stunde in meinem Garten. Ich habe einfach nur da gesessen und stumm in die Apfelbäume geschaut.