Don´t get stuck!
360° GEO | April 2006 | Tuktoyaktuk | Making OF |
Sie hatten uns alle gewarnt: Fliegt da nicht hin, nicht um diese Jahreszeit! Und vor allem: „Don´t get stuck in Tuk!“ – „Bleibt nicht in Tuk hängen!“
Die kanadischen Zöllner, die Taxifahrer in Inuvik – unserer letzen Station vor dem Weg in die Einsamkeit – und die Leute der Airline, die uns in den arktischen Norden geflogen hat. Sie alle schwanken zwischen Mitleid und Entsetzen, als sie von unseren Plänen hören, den Bau der Ice Road mit der Kamera zu begleiten.
Tuk – oder vollständig Tuktoyaktuk – ist eines der isoliertesten Dörfer der Welt und seine Bewohner stehen im Ruf, wortkarg, unberechenbar und wenig zimperlich zu sein.
Als wir nach drei Reisetagen endlich mit Sack und Pack am Flughafen von Tuk ankommen, erhalten wir vom örtlichen Flugplatzwart erst einmal eine eindringliche Grundeinweisung: „Vergesst alles, was Ihr über Kanada gehört habt. Hier ist Tuk. Das ist was anderes. Hier haben wir unsere eigenen Gesetze. Alles klar?“
Tuk besteht aus einer größeren Ansammlung von Häusern mit zwei Kaufmannsläden, einer Krankenstation, einer Schule und rund zehn Kilometern Straßennetz. Alle Wege enden am Dorfrand. Es gibt weder eine Kneipe noch ein Kino. Wahrlich kein heimeliger Ort. Vor allem nicht im Winter, wenn die Polarnacht die Gegend fest im Griff hat.
Und dies soll nun für ein paar Wochen unser Zuhause sein. Keine gemütliche Aussicht, vor allem wenn man im ‚Tuk Inn’ wohnen muss, dem einzigen Hotel weit und breit: eine Bruchbude, die nach deutschen Hygiene-Maßstäben als ‚gesundheitsgefährdend’ gelten dürfte. Courtney Love soll hier vor Jahren einmal übernachtet haben – allerdings im Sommer und im Drogenrausch, heißt es.
Wer heute im Winter nach Tuk kommt, muss sich mit der Familie des Eigentümers arrangieren, die das Haus als privaten Wohnraum flächendeckend in Beschlag nimmt. Wir erleben die Großfamilie in Unterwäsche, im Vollrausch und schlafend auf den Tischen des Essensraumes. Die Küche ist eine Art Feuchtbiotop. Die Zimmer ähneln Rumpelkammern. Das ganze kostet 145 Dollar pro Nacht – ohne Verpflegung oder regelmäßige Zimmerreinigung, versteht sich. „Hier haben wir unsere eigenen Gesetze. Alles klar?“
Gleich in den ersten Tagen lernen wir, dass feste Verabredungen in Tuk nichts, aber auch gar nichts gelten. Mal verlieren die Leute die Lust, mal vergessen sie einfach die Absprachen und mal sind sie schlicht betrunken. Das erschwert die Dreharbeiten mehr als die ständige Kälte und Dunkelheit.
Bald erleben wir auch, dass Tuk eine in sich geschlossene Lebensgemeinschaft ist. Was jenseits der Dorfgrenze passiert, ist den meisten vollkommen egal. Fast niemand interessiert sich für das Leben in Deutschland oder fragt sich, warum wir um den halben Erdball fliegen, um Tuk zu besuchen. In Tuk ist man sich selbst genug.
Manchmal müssen wir sogar um unser Leben fürchten. Auf der Karibu-Jagd zum Beispiel: Nach fünf Stunden Fahrt mit dem Motorschlitten durch absolute Wildnis, ohne Verbindung zur Zivilisation, geht uns das Benzin aus. „Das langt schon“ hatte unsere einheimische Begleitung gesagt. Aber es langt nicht…: Erst bleibt der eine Motorschlitten stehen, dann verreckt der zweite Schlitten irgendwo draußen im ewigen Weiß der Landschaft. Mit dem letzten fahrtüchtigen Gefährt zuckeln wir zurück ins Dorf: Zwei Jäger auf dem Schlitten vorneweg, das gesamte Filmteam, samt Ausrüstung und drei erlegten Karibus auf dem Anhänger hintendran. Es ist reines Glück, dass wir nicht irgendwo im tief verschneiten Niemandsland liegen bleiben und erfrieren. Das ist nicht etwa Boshaftigkeit unserer Jäger aus Tuktoyaktuk. Es ist ganz einfach Gedankenlosigkeit. Viele Bewohner von Tuk sind der Welt ein wenig entrückt.
Am Ende der Drehzeit fassen wir zusammen: Wir haben fiese -49°C überstanden, Blizzards auf dem Eis durchgehalten und besonders raue und planlose Bewohner der Arktis kennengelernt. Wir haben acht Tage lang vergeblich auf einen 80-jährigen Bewohner gewartet, der im Dauerrausch abgetaucht war. Wir haben nach einem Mann gefahndet, der seit Wochen auf einer Kneipentour durch Kanada vermutet wurde. Wir haben Ice-Road-Bauer überlebt, die uns ständig auf der Piste abhängen wollen. Wir haben Schneepflugfahrer getroffen, die uns ‚lustige’ Fallen in die Straße bauen. Wir haben ein Tonmischpult komplett ruiniert, vier Paar Handschuhe in der Wildnis verloren, 12 Tage lang frittiertes und verbranntes Essen verdaut, dreimal Hilfe holen müssen, um unseren Team-Truck zu bergen. Zehn Meter freien Fall mit dem Motorschlitten überlebt und einen weiteren Motorschlitten kopfüber in die Büsche katapultiert. Vor allem haben wir gelernt: hier haben sie ihre eigenen Gesetze. Alles klar?
Wir schaffen es gerade noch, Tuk vor dem nächsten anrückenden Blizzard zu verlassen – und das beschert uns ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk: pünktlich zur Bescherung sind wir wieder daheim in Deutschland.
Einen Satz werden wir nie vergessen: „Don´t get stuck in Tuk“.
Und obwohl wir es selbst nicht verstehen: schön war es doch…